Festhalten
Es war einmal ein Mann, der sich in den Bergen verirrte und nicht mehr den Weg nach Hause fand. Die Sonne ging schon unter und er fürchtete sich mehr und mehr. Er wurde unruhig und ängstlich. Die Nacht kam und alles wurde still und dunkel.
Er begann also sehr langsam zu gehen, weil er nicht wusste, wohin er eigentlich trat. Tatsächlich gelangte er an einen Abgrund und stürzte hinein. Im Fall konnte er sich an ein paar Wurzeln festhalten.
Verzweifelte Situationen
Die Nacht war sehr kalt und seine Hände wurden steif vor Kälte. Es war immer schwieriger, sich an den Wurzeln festzuhalten. Er erinnerte sich an seinen Gott und sogar an die Götter anderer Leute. Irgendjemand musste ihm helfen! Er betete alle heiligen Worte, die ihm einfielen, doch nichts passierte. Seine Hände wurden immer kälter und die Wurzeln rutschten durch die Hände.
Er verabschiedete sich von der Welt. “Es geht mit mir zu Ende. Ich weiß nicht, wie tief das Tal ist, in das ich fallen werde und wie viele Knochenbrüche ich erleiden werde.” Er weinte so viele Tränen! Er weinte und dabei wollte er früher immer die Welt verlassen, weil sie ihm so viele Probleme verursachte. Jetzt war die Gelegenheit dazu, doch jetzt wollte er leben.
Der Kampf ums Loslassen
Die Kälte wurde stärker und stärker und schließlich musste er die Wurzeln loslassen. Zu seiner Überraschung stand er auf dem Boden! Die ganze Nacht lang hatte er gekämpft und war nur 20 Zentimeter vom Boden entfernt! Er hatte wie in der Hölle gelitten. Die ganze Nacht, die Kälte, die ständige Angst, dass er irgendwann loslassen müsse. Er hatte nicht geglaubt, dass er noch jemals einen anderen Tag sehen würde.
Aber als er fiel – nur 20 Zentimeter – konnte er es kaum glauben. Er schaute sich um. Ganz in seiner Nähe stand sein Haus. Er sagte: “Du lieber Gott! Ich habe völlig unnötig alle Götter angefleht, die ganzen Gebete zitiert und das alles, ohne wirklich in Gefahr zu sein!
Das ist genau unsere Situation.
Wir halten an allem fest.
Woran hältst du dich eigentlich fest?”
Bild: © Adam Clarke @ flickr.com – https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/
Ja – Woran hältst du dich eigentlich fest?
Wenn dein Verstand alle Konzepte und Urteile fallen lässt,
wenn du nicht mehr kontrollierst, sondern völlig vertraust,
wenn dein Herzschlag und der Fluss deiner Gedanken in einem Rhythmus mit dem Universum schwingen,
wenn du total und bewusst in dem aufgehst, was gerade geschieht,
wenn die Zeit stehen bleibt und dein kleines Ich nicht mehr existiert,
… dann bist du eins mit dem großen Feld des Lebens.
Oder bildhaft ausgedrückt,
… dann feiert deine Seele Sex mit der gesamten Existenz.
In diesem Augenblick bist du seelengevögelt.
„Seelengevögelt beschreibt eine mystische Erfahrung, nach der wir alle, bewusst oder unbewusst streben.“
Veit Lindau aus „SeelenGevögelt“